JETZT IST LAMMZEIT

Im Oktober sind auch die letzten Schafe aus den Bergen in Island ins flachere Land getrieben worden und die Tage der Lämmer gezählt. Dieses Frühjahr half Tierärztin Anne Hemmerling während der intensiven Lammzeit auf einem isländischen Hof.

Die Mitternachtssonne hat das Tal auf dem Hof Sveinsstaðir in ein milchig orangegelbes Licht gehüllt. Lämmer blöken. Der Hof liegt malerisch in einer Senke inmitten unzähliger kleiner Hügel, die sich durch das Tal ziehen. Diese Idylle bietet einen perfekten Rahmen für entspannte Urlaubswochen. Doch der Rostockerin Anne Hemmerling und ihrer schwedischen Freundin Helena Toss stehen stattdessen anstrengende Tage bevor. Sie sind gekommen, um Bauer Óli Magnússon und seiner Frau Inga Sóley Jónsdóttir während der intensiven Lammzeit unter die Arme zu greifen.

Anne Hemmerling zog es 2010 aus Mecklenburg-Vorpommern in den Norden Schwedens. Dort arbeitet sie als Veterinärin. Wie ihre Freundin, die schwedische Anästhesistin Helena, besitzt sie hobbymäßig selbst ein paar Schafe. Klar, als Veterinärin hat sie alle Tiere in ihr Herz geschlossen. Aber: „Lämmer sind wirklich besonders süß, da greift bei mir absolut das Kindchenschema“, sagt Anne Hemmerling.

Der Betrieb ihres Gastgebers Bauer Magnússon liegt an der Nordküste Islands, etwa drei Stunden Autofahrt von der Hauptstadt Reykjavík entfernt. Er hält auf seinem Hof – einem von mehr als 4 000 landwirtschaftlichen Betrieben auf der Insel – über 700 Schafe, von denen fast alle durchschnittlich zwei Lämmer zur Welt bringen. Die rund 330 000 Isländer teilen ihr 103 000-m2-Eiland mit inzwischen rund 500 000 Islandschafen. Die Tiere, die vor 1 000 Jahren mit den Wikingern auf die Insel kamen, sind hervorragende Woll- und Fleischlieferanten und mit ihrem dichten Fell, das in mehr als einem Dutzend Farbtönen von Weiß über Braun bis Schwarz daherkommt, perfekt für das wechselhafte Inselwetter ausgerüstet.

Anne und ihre Begleiterin haben eine Woche Urlaub genommen, um nach Island zu reisen. „Ich hatte zufällig auf Facebook gelesen, dass der Hof Helfer für die Lammzeit sucht. So konnten wir Ferien machen und gleichzeitig etwas Sinnstiftendes tun“, sagt Anne Hemmerling.

Schon früh am Morgen nach der Ankunft – im Mietwagen statt im Bus, da der letzte Bus schon weg war – zieht es die Frauen in den Schafstall. Der Stall ist ein modernes Gebäude mit getrennten Bereichen für die Tiere für die Zeit vor, während und nach dem Lammen. Es ist ein ausgeklügeltes System, das die Bauernfamilie seit der Errichtung des neuen und größeren Stalls vor einigen Jahren erprobt und optimiert hat.

Anne Hemmerling und Helena Toss sind beeindruckt, wie routiniert ihren Gastgebern die Arbeit von der Hand geht. In Arbeitskleidung bewegen sie sich langsam um die Bereiche mit den trächtigen Muttertieren. Eine Zibbe bzw. Aue, so nennt man ein Mutterschaf, hat sich von der Herde abgesondert und wirkt unruhig. Damit das Tier in Ruhe lammen kann, packt Anne Hemmerling es an den Hörnern und bewegt es in einen abgetrennten Bereich am Rand, fern von den anderen Tieren.

Nur selten muss bei der Geburt eingeschritten werden. Aber wenn ein Lamm im Geburtskanal feststeckt, ist es gut, dass menschliche Hilfe vor Ort ist. Selbst schwächere Lämmer kommen schnell auf die Beine. Die Sterberate der Lämmer auf dem Hof beträgt laut Bauer Óli Magnússon nur ein Prozent. Tochter Salka Kristín versorgt ein blindes und ein verletztes Lamm per Flasche. Die beiden Flaschenlämmer sind nach wenigen Tagen die wohlgenährtesten im Stall. Die Achtjährige und ihr Bruder Magnús (sechs Jahre) helfen gern bei der Arbeit im Stall oder beim Verlegen der Schafe auf die Weiden.

Die Sommerferien beginnen in den ländlichen Regionen Islands bereits im Mai, ein Relikt aus alten Tagen. Früher waren nämlich viele Lehrer gleichzeitig Bauern und mussten die Lehrtätigkeit vor der Lammzeit beendet haben. Im Gegenzug für die längeren Sommerferien sind die Schultage hier länger als in der Hauptstadt Reykjavík.

„Hast du eine Schnur?“, ruft Anne Hemmerling ihrer Freundin zu. Sie hat ein Schaf entdeckt, das Probleme während des Gebärens hat. Nur der Kopf des Lamms, nicht aber die Beine sind zu sehen. Es sitzt fest. Der Tierärztin gelingt es, die Beine in die richtige Position zu drehen und eine Schlinge darumzulegen. Nach einigen Minuten angestrengten Ziehens erscheinen endlich die Vorderbeine. Wenig später ist das Lamm geboren. „Wenn nicht Kopf und Vorderbeine vorankommen, muss man schon mal eingreifen“, sagt die Tierärztin.

In einer anderen Ecke des Stalls ist Óli Magnússon mit dem „Adoptieren“ eines Lamms beschäftigt. Ein Schaf hat gerade nur ein Lamm anstatt des üblichen Zwillingspaars geboren. Magnússon nutzt die Gelegenheit, dem Tier das Junge einer anderen Zibbe, die drei Lämmer geworfen hat, unterzujubeln. Dazu badet er das schon ein paar Tage alte Lamm in gesammeltem Fruchtwasser und legt es dem neuen Muttertier vor, welches beginnt, das ältere Lamm sauber zu lecken und es als ihres adoptiert. „Wenn das Schaf nach schwerer Geburt endlich mit dem Lamm vereint ist, ist das immer ein sehr rührender Augenblick. Geburtshilfe macht uns schlichtweg Spaß, und da machen dann auch lange Tage nichts aus“, sagt Anne Hemmerling. Ihr bereitet die Arbeit mit Schafen und das Lammen so viel Freude, dass sie in ihrer neuen Heimat Nordschweden mittlerweile sogar Lammkurse anbietet, um anderen Hobbyschäfern Geburtshilfe bei Schafen näherzubringen.

Sieben Tage und 1 000 neugeborene Lämmer später sind sie und ihre Begleiterin ein bisschen erschöpft, aber euphorisiert: Der größte Teil der Lämmer ist geboren und tollt schon auf den Weiden. Im Schafstall ist es ruhig geworden, die Reinigungsarbeiten haben begonnen. Bald werden die Schafe und Lämmer in die Berge entlassen, wo sie den isländischen Sommer frei verbringen – bevor sie im Herbst eine andere Reise antreten. Und für Anne Hemmerling und Helena Toss steht fest, dass sie auch in Zukunft zurück auf den Hof kommen, um ihre neu gewonnenen Freunde zu besuchen.

[Published in German magazine SuperIllu, Nr. 19/2018]