EIN HISTORISCHER SCHATZ

Heidi und Rainer Thom sind seit fast 50 Jahren NNN-Leser und haben der Zeitungsredaktion Fotos vom zerstörten Rostock gezeigt

Ein liebevoll gestalteter Ledereinband, dem seine fast 80 Jahre durchaus anzusehen sind, ziert den Schatz, den Heidi und Rainer Thom auf ihrem Wohnzimmertisch in der Wohnung im Hansaviertel präsentieren. Allein die Gestaltung des historischen Covers ist ein Blickfang. Feine und detaillierte Prägungen mit floralen Ornamenten sowie die in engem Abstand stehenden Löcher an den Rändern, aufwendig mit einem Band durchfädelt, schmücken den Einband, der den wertvollen Inhalt schützt. Ein Inhalt, der der Öffentlichkeit bisher verborgen blieb.

Beim Aufschlagen des Albums sieht man ein dunkles Foto, auf dem über der Stadtsilhouette von Rostock mit der erkennbaren Petrikirche eine riesige schwarze Wolke zu erkennen ist. Durch die Bildunterschrift „Rostock 24. April 1942“ stellt sich ein beklemmendes Gefühl ein, denn man versteht, dass es eine unendlich erscheinende Rauchwolke ist, die den Himmel über Rostock an jenem Abend verdunkelt. Während vier aufeinanderfolgender Nächte im April 1942 wurde Rostock durch die britische Luftwaffe angegriffen, wobei die Innen- und Altstadt schwer getroffen wurden.

An die so genannten Brandnächte von Rostock erinnert sich die 1940 geborene Heidi Thom selbst nicht, jedoch sind die Fotografien, die ihr Vater Hans Rodley in jener Zeit aufnahm, bewegende Dokumente dieser Zerstörung. Der Vater hatte die Fotografie als Hobby und lichtete nach den Angriffen den Zustand der Straßen Rostocks ab, weiß Heidi Thom zu berichten. Er tat es heimlich, denn die Nationalsozialisten hatten verboten, Bilder der zerstörten Stadt zu verbreiten. „Anscheinend sollte vermieden werden, den Alliierten zu zeigen, wie schwer die Zerstörungen waren“, erzählt sie weiter. Denn diese waren enorm. In den Fotografien von Hans Rodley lässt sich das erschreckende Ausmaß gut erkennen, da er von der Marienkirche aus die in Schutt und Asche gelegten Straßenzüge der Kistenmacher-, Krämer- und Langen Straße und die ausgebrannten Häuser um den Neuen Markt abbildete. Aber auch Straßenszenen wie die Am Schwibbogen, wo Menschen Trümmer der zerstörten Häuser des Schmiedemeisters Carl Kähning und der angrenzenden Bau- und Möbeltischlerei auf den mit Pferden bespannten Wagen aufladen, fing er ein.

Ein anderes Bild zeigt das Stadttheater, welches erst vier Jahre vor der Zerstörung renoviert wurde. „Es ist schade, dass man es nicht wieder aufgebaut hat”, beklagt Ehemann Rainer Thom, da die Fassade auch nach den Angriffen noch intakt und es nur innen ausgebrannt war.

Zur damaligen Zeit wohnte die Familie in einer großen Wohnung in der Maßmannstraße, die sie Mitte der 1930er bekommen hatte, da mit sieben Kindern mehr Platz nötig war. Heidi Thom ist das jüngste Kind der Familie. Sie erinnert sich noch genau daran, wie der Vater auch in späteren Jahren die exponierten Filmrollen daheim in der Badewanne entwickelt hat. „Dann durften wir Kinder nie in die Badestube“, erzählt sie schmunzelnd. Auch an die gespannte Wäscheleine im Badezimmer, auf welcher der Vater die entwickelten Bilder aufhängte, erinnert sie sich und muss lachen. Als sie durch das Album blättert und sich die Fotos genauer anschaut, fällt ihr zu beinahe jedem Bild eine Geschichte ein und Kindheitserinnerungen werden wach. Ein Foto zeigt die alte Straßenbahn, wie sie vom Neuen Markt in die Kröpeliner Straße, die damals noch Blutstraße hieß, abbiegt. „An die Straßenbahnen kann ich mich noch genau erinnern. Die Bürgersteige waren damals sehr eng und immer, wenn eine Straßenbahn kam, mussten wir Kinder zurückweichen und uns an die Schaufensterscheiben lehnen“, erzählt Heidi Thom.

Kurz darauf entdeckt sie auf einem anderen Bild die Schaufenster der Kaufhäuser A. Wertheim und Zeeck in der Kröpeliner Straße. „Meine Mutti ging lieber bei Wertheim einkaufen, da es dort billiger war. Bei Zeeck war es sehr teuer“, erinnert sie sich an die Erzählungen. „Das Warenhaus Wertheim war schon damals eine Art Erlebniswelt mit seinem Wintergarten, großen Figuren und dem Lichthof “, weiß Rainer Thom zu erzählen.

Auf einem anderen Foto der zerstörten Rostocker Innenstadt kann Heidi Thom das Gebäude am Neuen Markt ausfindig machen, in dem sie später ihre Ausbildung zum Handelskaufmann bei der Handelsorganisation (HO) – ein Volkseigentum geführtes staatliches Einzelhandelsunternehmen in der DDR – absolviert und dort anschließend viele Jahre in der Buchhaltung gearbeitet hat. Ihren späteren Ehemann Rainer Thom lernte sie 1964 bei dessen Ausbildungsabschlussfeier kennen. „Vor zwei Jahren haben wir Goldene Hochzeit gefeiert“, berichtet sie stolz. „Wer kann das heute noch von sich sagen“, fügt Rainer Thom hinzu. Um 1970, ein paar Jahre nach der Hochzeit, erfolgte der Umzug in die Wohnung im Hansaviertel, in der sie bis heute leben. „Seit dieser Zeit haben wir auch die NNN abonniert. Die andere Lokalzeitung war uns zu parteilich angehaucht“, berichtet Rainer Thom. Zur Zeit des Umzugs war er als Zimmermann von 1969 bis zur Inbetriebnahme 1971 am Bau des Hotels Neptun in Warnemünde beteiligt. Später als Polier im Hochbau beschäftigten ihn Bauvorhaben wie das Südstadtcenter und der erste Umbau des Hauptbahnhofes. Mittlerweile sind Heidi und Rainer Thom pensioniert und genießen das ruhigere Leben, in dem auch die 13-jährige Rauhaardackeldame Fränzi ei- ne große Rolle spielt. Ihr haben die Thoms ein neues Zuhause gegeben.

[Published in German newspaper Neueste Norddeutsche Nachrichten (2018-02-17) ]